Ein Versuch, Sozialpädiatrische Zentren zu erklären – von Jürgen Seeger
Was wir uns im vdää* für eine sinnvolle Arbeit im Gesundheitswesen schon lange wünschen, nämlich interdisziplinäre Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team und Finanzierung ohne Einfluss auf die medizinischen Entscheidungen, ist in den SPZ Alltag. Jürgen Seeger stellt sie uns vor.
Ich muss vorwegschicken, dass ich kein Sozialpädiater bin und die Geschichte und die Entwicklung der Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) bis 2015 nur von außen beobachtet habe. Während meiner Tätigkeit als Neuropädiater an der Deutschen Klinik für Diagnostik (DKD) in Wiesbaden gab es zwar reichlich Kontakte und Kooperationen mit den umliegenden SPZ (Wiesbaden, Mainz, Frankfurt-Höchst und Frankfurt Mitte), aber ich war eben nicht Teil dieser Entwicklung. Bis sich dann 2015 die Gelegenheit ergab, auf der Flucht aus dem Helios-Konzern, der die DKD erworben hatte, in das SPZ Frankfurt Mitte zu wechseln. Hier war ich bis Ende 2020 als stellvertretender ärztlicher Leiter aktiv und habe die Arbeit dort als ausgesprochen befriedigend erlebt.
Mein Artikel fußt auf diesen Erfahrungen und dem, was ich dort über SPZs gelernt habe – er ist entsprechend subjektiv.
Sehr schnell habe ich nach meinem Arbeitsantritt dort gemerkt, dass selbst unter uns gesundheitspolitisch Interessierten die Sozialpädiatrischen Zentren nicht bekannt waren, mit der Abkürzung SPZ konnte niemand etwas anfangen. Ich habe deshalb bei verschiedenen Gelegenheiten meine – beschränkten – Kenntnisse gerne weiter gegeben.
Sozialpädiatrische Zentren können seit 1989 auf Grundlage des §119 SGB V eingerichtet werden. Damals gab es bereits um 20 solcher Einrichtungen, heute sind es bundesweit ca. 160. Ausführliche Informationen und alle Adressen finden sich auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V. (DGSPJ). Über die Einrichtung eines SPZ entscheidet auf Antrag eines Trägers der Zulassungsausschuss bei der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung. Eine übergeordnete Planung auf Landes- oder Bundesebene gibt es nicht, was zu einer sehr ungleichen Verteilung der Einrichtungen führt – wie in anderen Bereichen des Gesundheitswesens auch. Die Ermächtigungen werden für sehr unterschiedliche Zeiträume erteilt (1 – 10 Jahre, bei der Mehrzahl 5 Jahre), wobei Zeiträume unter 10 Jahren eigentlich einer sinnvollen Planung innerhalb der Einrichtungen abträglich sind.
Aus einer Erhebung der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialpädiatrischer Zentren (BAG-SPZ) in der DGSPJ geht hervor, dass bei etwa 70% der SPZ die Träger Krankenhäuser sind (z.T. mit Einbindung des SPZ in die Kinderklinik); in meinem Fall ist es ein städtischer Verein bzw. der Arbeitgeber eine gemeinnützige GmbH. Es besteht eine enge Kooperation mit einer Kinderklinik im gleichen Gebäude. Die Betreuung im SPZ ist nur möglich auf Zuweisung durch Vertragsärzt*innen (i.d.R. Kinder- und Jugendärzt*innen oder auch -psychiater*innen). Die Bezahlung erfolgt – außerhalb des stationären und des ambulanten Abrechnungssystems – über für jedes SPZ mit den Krankenkassen zu verhandelnde Quartalspauschalen. Diese variieren – in Abhängigkeit von der Größe und den angebotenen Leistungen, sicher auch vom Verhandlungsgeschick der beiden Seiten – erheblich (2014 Bandbreite: 260-680 € pro Überweisungsschein). Diese Pauschale soll alle medizinischen Leistungen abdecken. Für nichtmedizinische Leistungen, sofern sie nicht Teil des diagnostisch-therapeutischen Prozesses sind, (z.B. Sozial- und Heilpädagogik) sollen die Träger der Sozialhilfe aufkommen. Dies ist allerdings nicht durch Durchführungsbestimmungen geregelt und wird nur sehr begrenzt umgesetzt. Aus den Pauschalen müssen auch die Investitionen getragen werden, was bei der Aushandlung zu berücksichtigen ist. Andernfalls müsste der Träger einspringen oder es müssen Fremdmittel (z.B. Spenden) generiert werden.
Das SGB V beschreibt als Aufgabe der SPZ die Behandlung von Kindern, »die wegen der Art, Schwere oder Dauer ihrer Krankheit oder einer drohenden Krankheit nicht von geeigneten Ärzten oder in geeigneten Frühförderstellen behandelt werden können.« Nach dem »Altöttinger Papier« der DGSPJ (aus dem die folgenden Zitate stammen) liegt die Kernkompetenz »in der medizinischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen, die auf Grund ihrer Krankheit Störungen in ihrer geistigen, körperlichen und/oder seelischen Entwicklung aufweisen und somit in der gesellschaftlichen Teilhabe drohend oder manifest behindert werden.« Die Diagnosestatistik der BAG-SPZ zeigt 2018 für die an der Erhebung teilnehmenden SPZ die Entwicklungsstörungen (F8 nach ICD 10) mit 55% als größte Gruppe gefolgt von Verhaltens- und emotionalen Störungen (F9) mit 25%. Es können dazu auch »Kinder und Jugendliche mit seltenen oder auch chronischen Erkrankungen gehören, die einen zusätzlichen sozial-pädiatrischen Behandlungsbedarf haben«. Einzelne SPZ können also durchaus besondere Behandlungsschwerpunkte setzen. So war es mir möglich, die Sprechstunde für Kinder und Jugendliche mit neuromuskulären Erkrankungen fortzuführen sowie die Behandlung der Spastik mit Botulinumtoxin – und erfreulicherweise auch Nachfolgerinnen einzuarbeiten.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team
Die besondere Erfahrung war für mich, dass die »interdisziplinäre Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team« das Grundkonzept der Arbeit darstellt. Zwar heißt es im SGB V, dass die SPZ »fachlich-medizinisch unter ständiger ärztlicher Leitung stehen«, ohne die sonst oft übliche Zentrierung auf die ärztliche Leistung bringen die einzelnen Berufsgruppen aber ihre sehr hohe fachliche Expertise in gleichberechtigter Art und Weise ein. »Zu den personellen Voraussetzungen zählt insbesondere die Gewährleistung der interdisziplinären Zusammenarbeit medizinischer, psychologischer, pädagogischer und sozialer Dienste.« Zum »essentiellen Personalbedarf« gehören neben dem ärztlichen (»Facharzt/-ärztin für Kinder- und Jugendmedizin mit spezieller Qualifikation«) und psychologischen Bereich (»Diplom-Psychologe/-Psychologin bzw. Master in Psychologie (M.A./M.Sc) mit spezieller Qualifikation«), »Therapeutinnen und Mitarbeiterinnen aus mindestens 3 der folgenden Fachrichtungen: Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie, Heilpädagogik, Sozialpädagogik/Sozialarbeit.« Es kommt durchaus vor, dass Kinder je nach Fragestellung vor dem ärztlichen Erstkontakt zunächst von einer der Therapeut*innen gesehen werden. Regelmäßige Fallbesprechungen der beteiligten Professionen gehören zum Arbeitsalltag ebenso wie z.B. die gemeinsame Beurteilung eines Kindes in der physiotherapeutischen Sprechstunde. Eine weitere Besonderheit stellte für mich die Möglichkeit dar, Kinder auch außerhalb des SPZ zu betreuen, finanziert über die Eingliederungshilfe – für mich konkret die Möglichkeit der Teilnahme an runden Tischen in Einrichtungen und darüber hinaus die Erkenntnisse, die beim Besuch der Kinder zu Hause oder in Einrichtungen durch Therapeut*innen oder Sozialarbeiter*innen gewonnen werden.
Finanzierung ohne Einfluss auf die medizinischen Entscheidungen
Durch die Finanzierung über Quartalspauschalen entsteht – im Gegensatz z.B. zum DRG-System im stationären Bereich – kein Anreiz, medizinisch unnötige Leistungen zu veranlassen. Da kostenintensive Leistungen, z.B. MRT-Untersuchungen oder humangenetische Diagnostik in Kooperation mit externen Einrichtungen erfolgen und das Budget nicht belasten, gibt es auch keinen Druck, Sinnvolles zu unterlassen. Nach meinem Eindruck konnte ich deshalb meine Entscheidungen nach medizinischen Kriterien treffen.
Die Finanzierung einer länger laufenden Behandlung ist vom ärztlichen Kontakt unabhängig. »Bei jedem Patienten, der sich im SPZ in Therapie befindet, ist mindestens einmal jährlich die Wiedervorstellung zur Verlaufsuntersuchung beim behandelnden Arzt des SPZ erforderlich.« Die Quartalspauschale wird ansonsten über die therapeutischen Kontakte ausgelöst. Therapien bei niedergelassenen Therapeut*innen können als Kassenleistung unter den üblichen Bedingungen verordnet werden, ebenso Medikamente und Hilfsmittel.
Sehr positiv habe ich erlebt, wie in diesem System kollegiale Führung im Leitungsteam gelingen kann – und wie produktiv die Teilnahme aller Mitarbeiter*innen (über 60 Personen) bei der Gestaltung der Arbeit sein kann. Und wie sinnvoll eine externe Unterstützung (regelmäßiges Leitungs-Coaching) im Alltag und erst recht bei der Bewältigung von Konflikten ist. Hier ist es natürlich von Vorteil, einen gemeinnützigen Träger zu haben, der keine eigenen Profitinteressen hat und all dem aufgeschlossen gegenüber steht.
Nach der Erhebung der BAG-SPZ werden jährlich etwa 350.000 Patient*innen bundesweit in SPZ behandelt. Durch Vorstellungen in mehreren Quartalen ergeben sich ca. 600.000 Quartalsfälle. In den letzten Jahren hat keine wesentliche Steigerung der Patient*innenzahlen stattgefunden, was bei anhaltend hohem Bedarf (zum Teil lange Wartezeiten bis zum ersten Termin) als Ausdruck struktureller Probleme interpretiert wird (Einstellung qualifizierten Personals, räumliche Begrenzung, nicht ausreichende Finanzierung durch Krankenkassen und auch Sozialhilfeträger).
Mein persönliches Fazit
Mit den Sozialpädiatrischen Zentren wurde eine Versorgungsform außerhalb sowohl des stationären als auch des ambulanten, kassenärztlichen Rahmens für eine kleine Gruppe von Kindern und Jugendlichen geschaffen, die die vorhandenen Angebote in sinnvoller Weise ergänzt und dabei sowohl bezüglich der Arbeitsorganisation als auch der Finanzierung gewohnte Pfade verlässt. Nach meiner Erfahrung ist hier ein an dem Bedarf und den Bedürfnissen der Patient*innen ausgerichtetes interdisziplinäres Arbeiten im multiprofessionellen Team auf hohem Niveau möglich. Dabei stehen Teilhabeorientierung und Befähigung von chronisch kranken Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien ganz im Mittelpunkt.
Die räumliche Verteilung der SPZ ist bislang ohne übergeordnete Planung erfolgt. Dies sollte im Rahmen einer noch zu entwickelnden sektorenübergreifenden Bedarfsplanung verändert werden. Die neue Bundesregierung verspricht hierzu: »die Sozialpädiatrischen Zentren bauen wir in allen Bundesländern aus«. Solange die Zulassungsausschüsse bei den Kassenärztlichen Vereinigungen die Entscheidungshoheit haben, muss sichergestellt werden, dass Ermächtigungen nicht für weniger als 10 Jahre erteilt werden, um innerhalb der Einrichtungen eine sinnvolle Planung zu gewährleisten.
Die Finanzierung der SPZ – aktuell über Quartalspauschalen von den Krankenkassen und Gelder der Sozialhilfeträger – muss »bedarfsgerecht auskömmlich« gestaltet werden, wie dies der Ampel-Koalitionsvertrag für die gesamte Pädiatrie verspricht. Die nach meiner Erfahrung oft unerfreulichen, Zeit und Ressourcen verbrauchenden Verhandlungen mit den Kassen sollten abgelöst werden z.B. durch ein System der Selbstkostendeckung. Bis dahin muss ein jährlicher Zuwachs der Pauschalen zumindest entsprechend der Tarifentwicklung gewährleistet werden. Die Beteiligung der Sozialhilfeträger muss verpflichtend geregelt werden.
Sozialpädiatrische Zentren sind, wie Krankenhäuser, Einrichtungen der Daseinsvorsorge. Sie gehören nicht in die Hände privater Eigner, die sie mit der Absicht der Gewinnerzielung betreiben. Dies muss künftig vor allem auch bei der Neueinrichtung von SPZ gewährleistet werden.
Jürgen Seeger, Dr. med., ist Gründungsmitglied des vdää* und im erweiterten Vorstand. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Neuropädiatrie. Von 2015 bis 2020 war er stellvertretender ärztlicher Leiter im SPZ Frankfurt Mitte. – Interessenskonflikt: Er hat einen Honorarvertrag mit dem Träger des SPZ Frankfurt Mitte für ärztliche Konsiliartätigkeit.
Der Autor ist Mitglied der LDÄÄ-Hessen.
Der Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift „Gesundheit brauch Politik“ 1/2022
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