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Operation mit falschem Besteck

Christof Stork zum Niedergang der Klinik für Kinder und Jugendliche in Wiesbaden

Am Beispiel der Dr. Horst Schmidt Kliniken (HSK) in Wiesbaden führt uns Christof Stork vor, was Privatisierung bedeutet und welche Konsequenzen das für die Beschäftigten, die Patient*innen, aber auch die kommunale Politik hat. Wir dokumentieren auch einen Offenen Brief, den Ärzt*innen für Kinder- und Jugendmedizin in der regionalen Zeitung veröffentlicht hatten, um auf die unhaltbaren Zustände hinzuweisen.


Wiesbaden hat zusammen mit dem Umland knapp eine halbe Million Einwohner*innen, davon ca. 80.000 unter 18 Jahren, medizinisch zu versorgen. In der Stadt gibt es eine Klinik für Kinder und Jugendliche, gegenüber auf der anderen Rheinseite gibt es in Mainz die universitäre Pädiatrie, ebenso im nahe gelegenen Frankfurt. Zusätzlich werden im Rhein-Main-Gebiet sieben Kliniken für Kinder und Jugendliche in unterschiedlicher Trägerschaft betrieben.


Die Dr. Horst Schmidt Kliniken (HSK) in Wiesbaden, bis 2011 in kommunaler Hand, sind ein Haus der Maximalversorgung. In der Pädiatrie waren immer mehrere Subspezialitäten vertreten. In der Onkologie und Kinderkardiologie wurde eng mit Mainz kooperiert. Während der kommunalen Trägerschaft gab es seit Einführung der Fallpauschalen bereits anhaltende schwierige Phasen seitens der Geschäftsführung. Die damaligen politisch Verantwortlichen konnten oder wollten dem nicht personell gegensteuern. Stattdessen wurde unter dem Eindruck der 2009er Finanzkrise und einer ausgeprägten Marktgläubigkeit in der damaligen Stadtpolitik das Haus 2012 an die Rhön-Klinikum AG verkauft.


Der Vertrag zum Verkauf enthält Elemente der Täuschung: Es wurde eine 51%ige Anteilseignerschaft der Stadt Wiesbaden eingetragen, aber gleichzeitig der Verzicht der Stadt auf jegliche Einflussrechte auf das operative Geschäft. Es gibt laut Vertrag einen dritten städtischen Geschäftsführerposten und Mandate im Aufsichtsrat ohne jegliche Einflussnahme. Stimmen aus dem Aufsichtsrat beschreiben die Sitzungen teils als Werbeveranstaltung des privaten Trägers ohne substanzielle Informationen. Unfreundliche Interpretationen könnten hieraus eine Mischung aus Bürgertäuschung (»Mehrheitseignerin«) und Selbsttäuschung der Verantwortlichen ableiten. 2021 monierte der Hessische Rechnungshof, dass die Stadt wesentliche, in hessischen Gesetzen verankerte Prüfpflichten im Vertrag nicht ausreichend gesichert habe.


Die Kinderklinik der HSK hatte während kommunaler Trägerschaft und auch später keine Verluste gemacht. Dank der beiden Chefärzte Prof. Albani und Prof. Knuf (seit 2009) und vieler engagierter Mitarbeiter*innen war der Case-Mix-Index (Indikator für arbeitsaufwandbezogenes Honorar pro Fall) teilweise höher als der der Uni-Kinderklinik Mainz.


Unter der Rhön-Klinikum AG setzte ein Sparkurs mit Kürzungen im Personalbereich ein, insbesondere in der Pflege. Im Jahr 2015 wurde das Klinikum an Helios verkauft u.a. mit der Maßgabe, dass vom neuen Träger der Neubau des Klinikums zu erstellen sei. Parallel wurde schon 2011 im hessischen Krankenhausgesetz die Bettenzahl als Parameter zur Bemessung des Versorgungsgrads abgeschafft. Es musste fortan mit Auslastungsprozenten argumentiert werden, welche den hohen Vorhaltebedarf in der Pädiatrie nicht berücksichtigen.


2015 standen der HSK Kinderklinik 106 Betten zur Verfügung und es wurden über 5.000 Kinder im Jahr stationär behandelt. 2019 wurden bei gleichzeitig erhöhter Geburtenrate und Zuzug von Familien mit Kindern nur noch 3.000 Patient*innen stationär behandelt. Während der Jahre 2019 und 2020 gab es phasenweise aufgrund von Personalmangel nur noch um die 40 Betten zu belegen. Helios hatte mit Kündigungen und Auflösungsprämien vorsätzlich einen Personalabbau eingeleitet und darüber die Kontrolle verloren. Im Rhein-Main-Gebiet gab es attraktivere Angebote für pädiatrische Pflegekräfte. In der konsequenten betriebswirtschaftlichen Denkweise wurden dann folgerichtig die ärztlichen Stellen ebenso nicht mehr besetzt oder gekündigt.


Schon Anfang 2018 bildete sich aufgrund dieser Notlage eine Arbeitsgruppe niedergelassener Kinder- und Jugendärzt*innen, deren Mitglied ich bin. Wir führten Gespräche mit den städtischen Vertreter*innen gemeinsam mit dem Chefarzt. Es zeigte sich schnell, dass wir in einer Kammer der Ohnmacht versammelt waren. Die begleitende Pressearbeit unserer Gruppe wurde von ehemals für den Verkauf Verantwortlichen öffentlich kritisiert und die PR-Abteilung von Helios hielt mit Beschönigungen und Absichtserklärungen dagegen.


Zwischen 2018 und 2020 verschlechterte sich die Versorgungslage für stationäre und tagesklinische Behandlungen dermaßen, dass die Kolleg*innen aus den Praxen teils wöchentlich mehrere Patient*innen dort nicht unterbringen konnten. Kinder und Jugendliche, die schon in der Aufnahmeambulanz angekommen waren, wurden in einem Radius zwischen Aschaffenburg, Bad Kreuznach und Limburg in umliegende Kliniken verlegt. Sozial benachteiligte Familien ohne Auto, mit mehreren Kindern und ggf. noch Sprachbarrieren wurden dadurch in große Not gebracht. Die Kritik der Eltern äußerte sich in massivem HSK-Bashing. Selbst bei freien Betten war die Akzeptanz der Familien reduziert.


Intervention von außen

Ein Wendepunkt in der Strategie unserer Initiativgruppe war die eigene Kündigung des Chefarztes, Prof. Knuf, im Herbst 2020. Er konnte mit der von der Geschäftsführung verfolgten Ausdünnung der ärztlichen Mitarbeiter*innen eine ethisch vertretbare Behandlung nicht mehr aufrechterhalten. In der Pressearbeit der lokalen Zeitung war die PR-Abteilung von Helios zunehmend mit strategisch aufwendig positionierter Selbstdarstellung vertreten. Gleichzeitig wurde damit in den Artikeln, die unsere Kritik erwähnten, unsere Botschaft konterkariert. Glücklicherweise bekam ich parallel dazu vom leitenden Redakteur die Möglichkeit, einen ausführlichen Gastkommentar zu veröffentliche.


Wenige Tage danach schaltete unsere Initiativgruppe eine Annonce im Wiesbadener Kurier zu den Missständen der stationären Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit der Unterschrift von über 30 niedergelassenen Kinder- und Jugendärzt*innen (siehe Kasten S. 29). Erst dadurch bekamen die folgenden Artikel in der Presse einen anderen Schwerpunkt und die Kommunalpolitik reagierte. Das aufsichtführende Ministerium (Hessisches Ministerium für Soziales und Integration – HMSI) und der Landeskrankenhausausschuss wurden u.a. durch Kontakte unserer Initiativgruppe eingebunden. Im darauffolgenden Schriftwechsel zwischen der Stadt Wiesbaden und dem HMSI zeigte sich beispielhaft die doppelt organisierte Unverantwortlichkeit in der gegenwärtigen Gesundheitspolitik. Seitens HMSI wurde die Ansicht vertreten, dass die Stadt Wiesbaden, da sie auf dem Papier Mehrheitseignerin ist, für die Versorgungssicherheit in der Kinderklinik verantwortlich sei. Die Stadt Wiesbaden argumentierte, das HMSI sei das zuständige Aufsichtsministerium und müsse in der Überprüfung und Sicherstellung der Versorgung tätig werden.


Es gab zwei große Runde Tische mit allen Beteiligten aus der Region und dem Ministerium einschließlich Abgesandten der Konzernleitung von Helios. Im Anschluss beschränkte sich die Kontrolle des HMSI darauf, die Bedingungen zur Einhaltung der Kriterien zum Betrieb der vorhandenen Level 1-Neonatologie einzufordern. Konkret war gerade die kinderchirurgische Abteilung zusammengebrochen und es musste mittels Hilfskonstrukten und Kooperation mit auswärtigen Fachabteilungen innerhalb einer bestimmten Frist die kinderchirurgische Versorgung der Früh- und Neugeborenen auf dem Papier dargestellt werden.


Parallel wurden in den städtischen Ausschüssen durch einen Kollegen unserer Gruppe bei den Grünen und von mir bei der SPD Anträge auf den Weg gebracht, um den Konsortialvertrag zwischen Helios und der Stadt Wiesbaden auf Rechtsgültigkeit überprüfen zu lassen. Ebenso wurde in den städtischen Gremien ein medizinisches Bedarfsgutachten für die Pädiatrie eingefordert. Im Februar 2022 wurde vom Stadtparlament Wiesbaden die Kostenübernahme und Beauftragung für beide Maßnahmen beschlossen.


Im Oktober 2021 nahm die neue ärztliche Leitung ihre Arbeit auf, eine Chefärztin mit Schwerpunkt Gerinnungsstörungen und ein Chefarzt mit Schwerpunkt Kinderkardiologie. Das erste Treffen mit der neuen Leitung, dem ärztlichen Geschäftsführer der HSK und einem im zweiten Anlauf eingestellten Kinderchirurgen mit unserer Initiativgruppe und interessierten niedergelassenen Kolleg*innen fand Anfang Dezember 2021 statt. Es wurden neue Zahlen zur Belegung, Verlegung und Aufnahme aus anderen Kliniken für die Monate Oktober und November präsentiert. Hier schien zumindest der weitere Abstieg nach unten gebremst, ein Trend zu stetiger Verbesserung ließ sich damit aber nicht belegen.

In tiefer Überzeugung wurde von Seiten der neuen Chefärzt*innen die Substitution ärztlicher Expertise durch Physician Assistants (PA) angekündigt. Die restlichen Angaben zur Restituierung der pädiatrischen Versorgung in der HSK waren Absichtserklärungen. Einen für Januar 2022 seitens der Klinikvertreter angekündigten dritten Runden Tisch haben wir als zu früh und ineffizient abgelehnt. Die einladenden Gremien der Stadt haben unsere Sichtweise übernommen.


Resümee

Solange die privatwirtschaftliche Vorgabe auf Gewinn, die Trägerschaft von Kapitalgesellschaften und das auf Menge ausgelegte Fallpauschalensystem nicht abgeschafft werden, wird die Operation mit falschem Besteck zum Schaden erkrankter Menschen weitergehen. Die politischen Normgeber in Bund und Ländern sind dringend gefordert, die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung als Daseinsvorsorge zu organisieren. Krankenbehandlung kann und darf nicht durch den Kapitalmarkt geregelt werden. Am Patientenbedarf transparent ermittelte und verwaltete Budgets in Begleitung unabhängig finanzierter Versorgungsforschung müssen geschaffen werden.


Dr. Christof Stork ist Kinder- und Jugendarzt im Teilruhestand (Praxisassistenz, Impfzentrum), Delegierter in der Landesärztekammer Hessen und seit September 2020 gesundheitspolitisch in der SPD aktiv; ein Interessenskonflikt besteht nicht.

Der Autor ist Mitglied der LDÄÄ-Hessen.

Der Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift „Gesundheit brauch Politik“ 1/2022

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